Besser keine, als eine irreführende Leitlinie!

Herzogenrath, 30.01.2019 · Nicht zuletzt dank der Interventionen des Berufsverbandes der Allgemeinzahnärzte in Deutschland e.V. (BVAZ), musste die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) vor mehr als 10 Jahren einräumen, dass es sich bei ihren damaligen Verlautbarungen nicht um stringente wissenschaftliche „Leitlinien“, sondern lediglich um „Eminenz basierte“ Empfehlungen“ einzelner Hochschullehrer handelte. Ohne eine Anpassung der Methodik an die in der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) fixierte und weltweit anerkannte Klassifizierung der Leitlinien (S1-S3) hätten die damaligen Statements der DGZMK verheerende forensische Folgen für die niedergelassenen Zahnärzte nach sich ziehen können.

Eine wissenschaftlich evidente S3-Leitlinie für die Wurzelspitzenresektion (WSR) – auf der Homepage der DGZMK als Aktualisierung der seit 2007 bestehenden, abgelaufenen Empfehlung für das Jahr 2012 angekündigt – konnte trotz mehrjähriger Bemühungen von 17 Fachgesellschaften bisher nicht konsentiert werden. Der Grund hierfür ist, dass sich die Mehrzahl der Beteiligten ehrgeizig und trickreicht weigert , die WSR als das zu beschreiben, was sie ist: Eine palliative, mit hoher Misserfolgsquote behaftete chirurgische Maßnahme (5) , die bei indikationsgerechter Behandlung der Grunderkrankung lediglich in besonderen Einzelfällen indiziert wäre, keinesfalls jedoch in den rund 170.000 Fällen, die jährlich allein zu Lasten der gesetzlichen Versicherungen durchgeführt werden.

Obwohl Ätiologie und Pathogene der Grunderkrankung „Bakterielle Endodontitis“ als einfache bakterielle Infektionskrankheit seit mehr als 100 Jahren umfassend beschrieben sind, sind Wurzelkanalbehandlungen je nach Stadium der Erkrankung in zahnmedizinisch entwickelten Ländern mit einer Misserfolgsquote zwischen 10 % und 40 % und in Deutschland mit bis zu 60 % behaftet. Die Bezeichnung „Misserfolg“ wird jedoch tunlichst vermieden. Stattdessen erfindet man lieber eine neue Krankheit, das sogenannte „Post-Treatment Desease“, also die Nach-Der-Behandlung-Krankheit (1) . Schöne neue Welt. Diese Zahlen sind zusätzlich zu revidieren, da in wissenschaftliche Studien nur solche Fälle aufgenommen werden, die insofern als erfolgreich behandelt gelten, dass zumindest der Zustand „Definitive Wurzelfüllung“ erreicht wurde. Zähne, bei denen die Indikation zur konservierenden Behandlung erst gar nicht gestellt wird, weil sie als „nicht erfolgreich zu behandeln“ eingestuft werden (beschönigend als „Intelligent Case Selection“ bezeichnet) und Zähne, die auf dem Wege zur definitiven Wurzelfüllung extrahiert oder reseziert werden müssen, finden keinen Eingang in die Statistik. Die Misserfolgsquoten sind mithin noch deutlich höher als in der Literatur angegeben.

Die Gründe für diese nicht akzeptablen Misserfolgsquoten, die die in der Humanmedizin gewohnten Zahlen von sehr nahe an null Prozent bei der Behandlung vergleichbar einfacher bakterieller Infekte sehr erheblich überschreiten, sind seit 100 Jahren histologisch belegt und durch aktuelle histologische Studien bestätigt: Die definitive Wurzelfüllung erfolgt, obwohl zahllose der für den endodontischen Infekt verantwortlichen Keime durch die Behandlung nach der aktuellen Lehrmeinung nicht abgetötet wurden. Sie überleben vielmehr aufgrund der mit hoher wissenschaftlicher Evidenz (Metaanalysen) belegten Insuffizienz der von der Lehrmeinung dogmatisch vorgeschriebenen Desinfektionsmittel in den mindestens 50 Prozent umfassenden Bereichen des endodontischen Hohlraumsystems, die der mechanischen Reinigung in keiner Weise zugänglich sind (2) .
Woher der Wind erneut weht, ist wie gewohnt bei Prof. Michael Hülsmann nachzulesen (1) , der die humanmedizinischen Leitlinien der Behandlung bakterieller Infektionskrankheiten ignorierend (4) und ohne Belege für die Überlegenheit „seiner“ Spezialisten anzuführen sinngemäß schreibt, dass die hohen Misserfolgsquoten die Frage aufwerfen, ob die Erlaubnis zur Durchführung von Wurzelkanalbehandlungen nicht Spezialisten für Endodontie vorbehalten werden sollte.
Vor diesem Hintergrund fordert der BVAZ die DGZMK auf, sich wie seit vielen Jahren von ihm gefordert in einem ersten Schritt jetzt endlich mit der indikationsgerechten Behandlung der Grunderkrankung zu befassen, anstatt sich in der Beschreibung palliativer Ultima Ratio–Maßnahmen zu verlieren, die risikobehaftet (5) , irreführend und damit eher schädlich sind.

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Quellenverzeichnis:
1) Hülsmann, M. (2016): „Epidemiology of post-treatment disease.”
Endodontic Topics, 34, 42-63
2) Osswald, Rüdiger: (2014): “Die indikationsgerechte Behandlung der bakteriellen Endodontitis“, NZZ, monatlich März bis Juni,
https://short1.link/MMOLEe
3) Zitat aus 1): “The high prevalence of post-treatment endodontic disease raises the question of whether the severity of the disease
and the obvious difficulty to treat the disease successfully requires restricting endodontic treatment to dentists specialized in (or limited
to) endodontics.”
4) Interview mit Dr. med. Dr. med. dent. Rüdiger Osswald über die
Unvereinbarkeit von ärztlicher und zahnärztlicher Lehre:

5) Kübler, A., Mühling, J. (1998): Leitlinien für die Mund-, Kiefer- und
Gesichtschirurgie, 13